In wissenschaftlichen und angewandten Diskursen rund um Organisation und Management wurden in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Allheilmitteln propagiert. Nach den grossen Modethemen wie ‚Qualität’, ‚Kultur’, ‚Lernen’ und ‚Wissen’ ist es nun die in verschiedensten gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen auftretende Forderung nach Kreativität.
Wieso Kreativität? Etwas vereinfachend kann man sagen dass kapitalistische Fortschritts- und Wachstumslogiken mit der Formel ‘neu und mehr gleich gut’ operieren. Und Kreativität, meist direkt mit dem Begriff der Innovation verbunden, wird im Rahmen dieser ‘Neophilie’ als direkte Voraussetzung für die Entwicklung neuer Technologien, Produkte und Services verstanden. Dabei wird Kreativität untrennbar mit der moralischen Bewertung von ‘neu’ gleich ‘gut’ und ‘alt’ gleich ‘schlecht’ verbunden. Beim genaueren Hinschauen stellt sich das ‚Neue’ allerdings als durchaus überdenkenswertes Kriterium für ein grundlegendes Verständnis von Kreativität dar. Vor allem in der engeren Verbindung mit der für kapitalistische Verwertung so wichtigen Frage der Besitztumsverhältnisse. In den nachfolgenden Beispielen werde ich die hier angerissene Problematik weiter beleuchten und für mich bedeutsame Implikationen in einer Form des ‚Rückrufs’ zur Diskussion stellen.
Alles nur geklaut? Der Blick zurück
Zunächst stelle ich ‚das Neue’ in Frage; löst sich ‚das Neue’ bei genauerer Betrachtung doch recht schnell in seine Bestandteile auf. Und die sind meist überhaupt nicht so neu.
Hierzu zunächst eine Feldnotiz aus meiner eigenen Forschungsarbeit zu organisationaler Kreativität im Rahmen von Tanztheaterproduktionen:
Buenos Aires, 13. Oktober 2011. Es ist Sonntag morgen, 10.00 Uhr, und für argentinische Verhältnisse bin ich schon sehr früh unterwegs zur Probe der Tanztheaterkompanie ‘KABRAS’. Angekommen in der Calle Murillo 680 steige ich die 17 abgewetzten Stufen hinauf zu ‘KABRAS’ Probenraum, der gleichzeitig Teil von Solanges grossem, und mit Hilfe von Freunden in Eigenregie umgebautem Studio-Appartment ist. Schon bevor ich eintrete höre ich von innen die beiden Stimmen von Gonzalo und Julian, beides Mitgleider der Truppe, offenbar lauthals miteinander im Gespräch. Ich schliesse die dritte Tür innerhalb von 15 Metern auf und trete ein in das liebevoll renovierte Appartment mit seinen 4 m hohen Decken, den knarrenden Dielen und den bunten Glasssteinfenstern. Gonzalo und Julian diskutieren mit erhobener Stimme: ‘Nein, wir stehlen nicht! Wir zitieren. Es ist gerade das Gegenteil, es ist Evolution’. ‘Es ist Diebstahl aber das ist mir Scheissegal!’ erwidert Julian trocken. “Es ist alles ein Remix” insistiert Gonzalo. Julian beharrt: “Es ist Stehlen aber es ist mir egal. Ich stehle hier und es ist mir scheissegal”. Auf dem neben ihnen stehenden Laptop läuft, wie so oft, irgendein YouTube Video.
‚Es ist alles ein Remix’, sagt Gonzalo, dessen tägliche Arbeit in der ersten Phase des Arbeitens an einem Stück mindestens eine Stunde ‚YouTubing’ als Inspirationssuche umfasst. Diebstahl? Die Suche nach ‚Zutaten’ und Inspiration ist gezeichnet durch Liebe und Diebstahl, schreibt Jonathan Lethem in Anlehnung an Bob Dylans Album ‚Love and Theft’, und verweist dabei auf Dylans eigene ‚Raubzüge’. Hier könnte man anbringen dass das Repetitive seit jeher als Modell der Popkultur fungierte. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer diagnostizierten schon 1944 in ihrer Essay-Sammlung ‚Dialektik der Aufklärung’ die sich wiederholenden Wiederholungen der Massenkultur als neurotisches Spiel. Der hier mitschwingende Kulturpessimismus wurde allerdings später, z.B. 1972 mit Roxy Musics (selbst-)ironischem Song ‘Re-Make / Re-Model’, zunächst spielerisch eingebunden und befragt, und spätestens seit dem Aufkommen von HipHop in den späten 1970ern, der sich durch ein offenes und ausgeprägtes Verarbeiten, d.h. Sampling von alten Quellen auszeichnete, selbstbewusst widerlegt. Der Remix wurde zur eigenen Kunstform und eins seiner Manifeste führt als obersten Punkt an: ‘Kultur basiert immer auf der Vergangenheit! (‘Culture always builds on the past!’). Dass dies, entgegen Adorno und Horkheimer nicht nur für die heutige Massenkultur, sondern möglicherweise für jegliche Art von Kulturerzeugnis gilt, und schon immer galt, konnte man letztes Jahr beispielsweise in der Basler Skulpturenhalle sehen. <<Kopienkritik>> war der Name einer Ausstellung von Oliver Laric, in der das Verhältnis von ‘Original’ und ‘Kopie’ bei griechischen Statuen und Walt Disney Filmen beleuchtet wurde. Hier, wie auch sonst im Film (siehe die sehenswerten Clips zu Kill Bill, Indiana Jones oder The Matrix ), in der Musik (siehe z.B. rip! A REMIX MANIFESTO ab Min 11:45), in der Literatur (z.B. Burroughs ‘cut-up-method’) oder eben auch im Tanz (REF) scheint ähnliches zu gelten:
Original thought is like original sin: both happened before you were born to people you could not possibly have met.
- Fran Liebowitz (via shauntaun)
Wussten Sie dass selbst die scheinbaren ‘Kreativitätsgurus’ rund um Steve Jobs bei ihrem ersten Mac gnadenlos ‘kopiert’ hatten? Ein weiterer Kreationsmythos! Kreativität lebt von der Beeinflussung, und Isaac Newton drückte dies auf folgende Weise aus als er in einem Brief schrieb: „Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe”; amüsanterweise hat Newton selbst mit diesem Satz auf Vorheriges gebaut, geht der Ausspruch doch mindestens auf Bernhard von Chartres zurück! Paul Klee verglich in diesem Zusammenhang den Künstler mit einem Baum; über ihre Wurzeln zieht sie die Mineralien ihrer Erfahrung – Dinge die sie beobachtet, gelesen, erzählt und gespürt hat – und verarbeitet diese dann in ‘neue’ Blätter.
Wenn ‘Die Prinzen’ ‘Alles nur geklaut’ singen, dann verweisen sie dabei für mich vor allem auf Kreativität als höchst voraussetzungsvolles Phänomen, bei dem es fraglich scheint inwiefern dann noch von Originalität geredet werden kann:
(via swiss-miss)
Nichts ist originell, bzw. nichts kommt von nichts und ‘Everything is a Remix’. Die Frage nach dem ‘Neuen’ führt uns so an einen bedeutsamen Punkt, an der Kreativität nicht mehr unbedingt im Individuum verortet werden kann, sondern als kollektives Phänomen verstanden werden muss. Kulturelle Produkte erscheinen so als Knotenpunkte oder Assemblage, die rückblickend verschiedene Stränge, zumindest temporär, zu einem ‘Ding’ (altgermanisch ‘thing’: Versammlungsort) verdichten.
Kreativität baut auf Vorhandenes. Der Anfang jedes Schaffensprozesses ist das Fortschreiben anderer Dinge und wird wiederum anderen Dingen ins Leben helfen. ‘Neu’ ist somit relativ und der hiermit implizierte ‘Topos des Unabgeschlossenen’ verlangt nach immer nur provisorischen Fertigstellungen. Pina Bausch sagte einmal in einem Interview dass sie sich mit ihren Stücken nur in die Öffentlichkeit traute weil es für sie vorläufige Arbeitsversionen waren. In der Softwareentwicklung z.B. ist dies inzwischen zum grundlegenden Prinzip geworden. Es werden immer nur ‘Versionen’, also niemals fertige Produkte, veröffentlicht. Überhaupt ist Softwareentwicklung, neben Tanz, ein spannendes Feld in dem deutlich wird dass Kreativität vor allem ein kollektives Phänomen ist, dass sich nur schwer mit althergebrachten Besitztumsverhältnissen und –ansprüchen verträgt. Allerdings muss Kreativität in einer kapitalistischen Verwertungslogik eindeutig verortet werden können. Wem gehört die Idee, das Patent, das ‘neue’ Produkt? Kreativität als kollektives Phänomen wirft hier heikle Fragen zum Urheberrecht auf; z.B. in der aktuellen Diskussion rund um Open Source und den neueren Urheberschutzgesetzen.
Kreativität ist unberechenbar - Den Blick nach vorne richten
Rückblickend könnte man also sagen: ‘Ja’, alles geklaut. So ist ein Hauptteil kreativen Schaffens das Kopieren. Das heisst aber nicht dass die Dinge einen vorhersehbaren Lauf nehmen, denn es handelt sich nie um 1:1 Wiederholungen, sondern um Variationen. Den Blick ‘nach vorne’ richtend würde ich dementsprechend sagen dass entscheidend ist, was man aus den Dingen macht, oder wie Jean-Luc Godard sagt: ’It’s not where you take things from – it’s where you take them to”. Oder besser noch, ‘wo einen die Dinge hinbringen’; und dies ist in einem kreativen Prozess ja nicht vorhersehbar (sonst wäre er ja nicht kreativ). Das Versammeln verschiedener ‘Mis-Kopien’ und Fragmente führt zu ‘neuartigen Dingen’ die nie vollkommen berechenbar sind. Hier zeigt sich Kreativität dann als höchst kontingent. Ihre Produkte könnten so oder auch anders sein und vieles hängt dabei vom ‘richtigen’ (Re-)Mix ab. Kreatives findet statt oder nicht. Es kann durch harte Arbeit und Enthusiasmus hervorgelockt werden, aber es kann nicht gezwungen werden. Der (glückliche) Zufall und überraschende Ereignisse bleiben wichtiger Bestandteil jedes kreativen Prozesses. Umso mehr wenn die Kompositionsarbeit sich ‘live’, quasi als Performance selber, abspielt. Zum Beispiel gut zu sehen bei ‘Girl Talk’, einem berühmten ‘Mash-Up’ Künstler, dessen musikalisches Genre ‘Mash-Up’ das Verwenden fremder Samples zum Prinzip gemacht hat. Oder auch in tänzerischen Praktiken wie z.B. der Kontaktimprovisation, in der aus wenigen Grundprinzipen und den im jeweiligen Bewegungsrepertoire vorhandenen Bewegungsmustern im Moment (der Begegnung) ‘Neues’ geschaffen wird. Kreatives ist risikoreich, kann es in diesem Sinne doch immer auch daneben gehen.
Fazit
Die kollektiven und kontingenten Aspekte jedes kreativen Prozesses geraten durch die ökonomische Vereinnahmung des Begriffs ausser Sicht. Die Koppelung von Kreativität an einen naiven Begriff des ‘Neuen’ scheint mir dabei nicht nur analytisch wenig hilfreich, sondern sogleich noch recht ‘unkreativ’. Denn einzig als Erfolgsfaktor für Neues wird Kreativität ziemlich eingeschränkt. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung nach Originalität. Deswegen plädiere ich hier für einen Rückruf, eine Art ‘Wiedergutmachung’ des zentralen Kulturbegriffs ‘Kreativität’. Wenn beides, Neuartigkeit und Originalität, zu sehr betont wird, dann reduziert dies die Möglichkeit was Kreativität alles sein oder bedeuten könnte (Rehn & De Cock, 2009). Der Versuch, Kreativität als Normabweichung zu normieren und individuell zu verorten, muss vor dem Hintergrund von Kreativität als kollektivem und unberechenbarem Phänomen scheitern.
Ich halte es, wenn man überhaupt den Begriff des ‘Neuen’ verwenden möchte, eher mit der vorläufigen Definition von Hastrup (2007). Sie versteht Kreativität als eine Art und Weise wie wahrgenommene Neuheit in die Welt kommt (S. 200). Wir verarbeiten auf was wir aufmerksam werden und was uns bedeutsam erscheint. Im Umkehrschluss gilt das Gleiche meist eben auch für unser eigenes Produkt: erst im Nachhinein, in der Aufmerksamkeit und Wertschätzung der anderen, wird unserem Schaffen bzw. unserem Produkt das Label ‘kreativ’ verpasst; oder eben auch nicht!
Für meine Forschungsarbeit habe ich entschlossen dass der Versuch, Kreativität über die Neuartigkeit oder die Originalität ihrer Produkte zu definieren, nicht weiter führt und immer nur ein Blick zurück ist. Um Kreativität (anders) zu verstehen müssen wir deswegen auch nach ‘vorne schauen’, auf die (kreativen) Versuche Kreatives herzustellen, den Prozess kreativen Schaffens an sich. Vor dem Hintergrund der hier aus vielerlei Quellen zusammengetragenen Gedanken rund um Kreativität und ‘das Neue’ plädiere ich dabei für ein Verständnis von Kreativität jenseits einer verengenden Verwertungslogik. Für die Kreativitätsdebatte wünsche ich mir deswegen den Blick mehr auf die kollektiven und kontingenten Prozesse als die Produkte und, bei aller Begeisterung und Leidenschaft, ein bisschen mehr Demut ob unserer begrenzten Einflussmöglichkeiten. Gerade in Zeiten, in denen Kreativität vermehrt als Imperativ – sei kreativ! – formuliert wird. Dazu aber gerne mehr beim nächsten Mal, oder in einem persönlichen Austausch. Ich freue mich über Kommentare, Anregungen und interessierte Kontakte.
Literatur
Hastrup, K. (2007). Playing One’s Part: The Imaginative Framework of Agency. Irish Journal of Anthropology, 10(2), 26–34.
Rehn, A., & De Cock, C. (2009). Deconstructing Creativity. In T. Rickards, M. A. Runco, & S. Moger (Eds.), The Routledge Companion to Creativity (pp. 222–231). Milton Park, UK: Routledge.