Wie die meisten Menschen haben Sie vermutlich einen mittelalten Mann vor Augen. Dies ist nicht erstaunlich, denn das Gesicht des Schweizer Topmanagements ist mit einem Frauenanteil von 17% nach wie vor männlich geprägt (Sander, 2021). Aktuelle Studien zeigen allerdings, dass der Schweizer Talentpool unterhalb des Kaders zwischen den Geschlechtern ausgeglichen ist und Frauen zunehmend Rollen in unteren und mittleren Führungsebenen wahrnehmen (BFS, 2021). Trotz diesen Fortschritten ist das weibliche Geschlecht in Spitzenpositionen, insbesondere in strategischen Funktionen mit Gewinn- und Verlustverantwortung, weiterhin unterrepräsentiert. Mit jeder höheren Karrierestufe nimmt der Anteil an weiblichen Führungskräften weiter ab und lediglich 6% aller CEO-Positionen in Schweizer Unternehmen werden von Frauen besetzt (Statista, 2022). Warum ist das so? Die Erklärungen sind sowohl in der Praxis als auch in der vorliegenden Forschung vielfältig und komplex. Oftmals wird voreilig an die Unvereinbarkeit von Familie und Karriere gedacht. „Vereinbarkeit bedeutet für beide Partner, sowohl eine herausfordernde Karriere zu haben als auch den familiären und häuslichen Verpflichtungen nachkommen zu können“ (Ostendorp et al., 2003). Die aktuelle Forschungsliteratur zeigt allerdings, dass an dieser Erklärung begründete Zweifel bestehen (Gherardi, 2015; Padavic et al., 2020).
In meiner Bachelorarbeit bin ich den Ursachen für den tiefen Frauenanteil im Schweizer Finanzwesen nachgegangen. Dabei habe ich insbesondere die Frage untersucht, inwiefern die Vereinbarkeit von Familie und Karriere als Begründung eine Rolle spielt. Um die Problemstellung tiefgründig zu erfassen und implizites Wissen zu rekonstruieren, führte ich zehn „Problemzentrierte Interviews“ mit Topmanagerinnen und Topmanagern aus Banken, Versicherungen und Beratungsunternehmen. Die Interviews wurden diskursanalytisch ausgewertet. Das heisst, ich habe die von den Interviewpartner*innen verwendeten argumentativen Bausteine (sogenannte „Interpretative Repertoires“) identifiziert und damit im Detail untersucht, wie die Erklärungen begründet werden. Obwohl das Spektrum an Erklärungen breit war, kristallisierte sich die „Teilzeitarbeit“ über alle Interviews hinweg als das bedeutendste Diskussionsthema heraus. Dabei wurde die Teilzeitarbeit nicht als Lösung, sondern vielmehr als Problematik aus gesellschaftlicher, biologischer und organisationaler Perspektive aufgegriffen. Ein zentrales Forschungsergebnis ist, dass die Ursachenerklärungen auf einer Vielfalt an impliziten Grundannahmen basieren. Diese stellen den Zugang zu den eigentlichen Kernproblemen dar und müssen bei der Ursachenerklärung berücksichtigt werden.
Neun der zehn interviewten Personen betonten, dass eine Karriere im Topmanagement mit der gleichzeitigen Familienarbeit durchaus vereinbar ist. Haben die Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Karriere bei der Ursachenklärung an Relevanz verloren? Leider nein. Sobald die tatsächliche Realisierbarkeit einer Vereinbarkeit von Familie und Karriere thematisiert wurde, kamen implizite Einschränkungen und Herausforderungen zutage. So wurde in den Interviews deutlich, dass die tatsächliche Umsetzung der Vereinbarkeit an vielfältige Bedingungen wie institutionelle Schul- und Betreuungsangebote, Teilzeitstellen oder Flexibilitätsmöglichkeiten gebunden ist. Obwohl die Vereinbarkeit positiv gedacht wird und sich der Diskurs hin zur Teilzeitthematik verschoben hat, bleiben die zugrundeliegenden Konflikte weiterhin bestehen.
Bereits die ersten Interviews zeigten, dass der Begriff „Teilzeitarbeit“ implizit auf ein 80% Pensum bezogen wird. Die Möglichkeit, im Topmanagement in einem tiefen Pensum (z.B. 40%) Teilzeit zu arbeiten, wurde gar nicht erst angesprochen – geschweige denn diskutiert. Dieses „vollzeitnahe“ Teilzeitverständnis der Interviewpartner*innen steht damit im Gegensatz zur Forschungsliteratur (BFS, 2021), die erst bei unter 80% von einer Teilzeitanstellung spricht. Des Weiteren unterliegt der Gebrauch des Teilzeitbegriffs unhinterfragten Verfügbarkeitsnormen sowie Flexibilitäts- und Präsenzanforderungen, da implizit von ständiger Erreichbarkeit und flexiblen Arbeitszeiten ausgegangen wird. Die Topmanager*innen betonten beispielsweise, dass ein fixer „freier“ Wochentag auch mit einem Teilzeitpensum nicht möglich sei. Diese Auffassung von Teilzeitarbeit zeigt, dass die eigentliche Diskussion über tiefprozentige Teilzeittätigkeit als auch die Erreichbarkeits- und Flexibilitätsanforderungen vorerst unangetastet bleiben.
Vor dem Hintergrund dieses Teilzeitverständnisses wurde die Teilzeitproblematik als Unvereinbarkeit mit Topmanagement- und Führungsanforderungen (1), als Akzeptanz- und Willensproblematik der Finanzbranche (2), als Frauensache aufgrund des Schweizer Geschlechtersystems (3) sowie als Problematik des Mutterschaftsknicks (4) diskutiert:
Zusammenfassend liefern die Ergebnisse meiner Bachelorarbeit Evidenz dafür, dass die Teilzeitdebatte auf impliziten Diskursen über die vergeschlechtlichten Strukturen der Arbeits- und Familienwelt, die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen an die Geschlechter und das Idealbild einer Führungskraft sowie über die Vorstellungen von Pensen-, Präsenz- und Flexibilitätsanforderungen im Topmanagement basiert. Die vielfältigen Problembereiche untermauern, dass es gesellschaftliche, aber auch unternehmerische Veränderungen braucht, um ein geschlechterunabhängiges Bild im Topmanagement zu verankern.
Dieser Blogbeitrag basiert auf der Bachelor-Arbeit der Autorin. Die Arbeit ist im EDOK der Universität St.Gallen (HSG) abrufbar.