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Unser Glaube an das Leistungsprinzip verhindert Gleichstellung

Unser Glaube an das Leistungsprinzip verhindert Gleichstellung

Gabriele Schambach und Julia Nentwich
10. Mai 2021

 

Eine objektive Beurteilung von Leistung ist ein Mythos – und verschärft Ungleichheit.
«In unserem Unternehmen zählen Leistung und Kompetenzen und nicht das Geschlecht». Dieser Meinung sind 82 Prozent der männlichen und 84 Prozent der weiblichen Führungskräfte, die sich an der ersten schweizweiten Umfrage zum Gleichstellungsengagement männlicher Führungskräfte im Rahmen des Projektes «Leaders for Equality» der Universität St. Gallen beteiligt haben. Somit wird das Leistungsprinzip von Schweizer Führungskräften als grösste Hürde auf dem Weg zu mehr Gleichstellung angesehen. Aber was bedeutet das eigentlich?

Das Leistungsprinzip setzt voraus, dass die reine Leistung einer Person die Voraussetzung für eine Beförderung in eine Leitungs- oder Führungsposition schafft. Dahinter steckt ein wesentliches Kennzeichen unserer modernen Gesellschaft: die Meritokratie. Weder eine adlige Geburt noch die familiären Beziehungen, weder Hautfarbe noch Geschlecht sollen bei der Beurteilung der Leistung eine Rolle spielen. Dass persönliches Fortkommen streng nach Leistung beurteilt wird, gilt als ein wesentlicher Grundsatz von Fairness. Die Annahme hat jedoch einen Haken: Sie setzt voraus, dass zur Messung gleicher Leistung alle das Gleiche leisten können und diese Leistung auch in gleichem Masse bei allen Personen auf gleiche Weise anerkannt wird. Das ist aber häufig nicht der Fall – und genau hier liegt das Problem!

Bias Trainings haben es in den letzten Jahren deutlich gemacht: Frauen und Männer, die sich für eine Führungsposition bewerben, werden unterschiedlich beurteilt. Die für eine Führungsposition wichtigen Kompetenzen wie Durchsetzungsfähigkeit, Rationalität oder Ehrgeiz werden Frauen seltener attestiert - insbesondere wenn sie Mütter sind. Erschwerend kommt hinzu, dass ihnen in dem gängigen Bild von Führung Kompetenzen wie Kommunikation oder Partnerschaftlichkeit, oftmals sogar als Schwäche ausgelegt werden. Frauen wird hier weniger zugetraut, die von ihnen erbrachte Leistung häufig nicht auf gleiche Weise anerkannt.

Hinzu kommt, dass nicht jede Leistung auch als Leistung verbucht wird. So wird beispielsweise unter «Belastbarkeit» zumeist die Bereitschaft zu Überstunden und ein hierdurch signalisiertes Durchhaltevermögen in Krisensituationen verstanden. Die hohe Einsatzbereitschaft von Teilzeitbeschäftigten, Arbeitsabläufe und Zeit gut zu optimieren, zeigt, dass sie mit einer hohen Arbeitsintensität umgehen können. Allerdings wird dies nur selten unter „Belastbarkeit“ verbucht.

Auch die unterschiedlichen Lebensrealitäten von Frauen und Männern in Führungspositionen spielen hier eine grosse Rolle: Daten der genannten Umfrage zeigen, dass Führungskräfte fast ausschliesslich Vollzeit arbeiten. Zweidrittel der männlichen Führungskräfte haben Kinder, aber nur ein Drittel der Kaderfrauen. Die Mehrheit der Partner*innen der Männer sind mit maximal sechzig Stellenprozenten erwerbstätig und übernehmen vermutlich die zeitliche Hauptverantwortung für die Familienaufgaben, während die  Partner*innen der weiblichen Führungskräften überwiegend Vollzeit tätig sind. Die Männer können auf die Unterstützung der Partnerin oder des Partners zählen, was bei den Führungsfrauen nicht in gleichem Masse der Fall ist. Diese Daten belegen: Kaderfrauen können gar nicht dauerpräsent und -erreichbar sein (wenn sie Kinder haben und diese nicht von anderen Personen als den Eltern betreut werden). 

Um mit den Unterschiedlichkeiten zwischen Frauen und Männern umzugehen und gleichzeitig das Leistungsprinzip für die Karriere- und Potentialentwicklung aufrecht zu erhalten, wählen Unternehmen häufig Fördermassnahmen, um die vermeintlich objektiven Kriterien zu erfüllen: Frauen erhalten beispielsweise Fortbildungen, um sich offensiver zu präsentieren, rhetorisch schlagfertiger zu werden oder «mehr Biss» zu entwickeln. Es sind die Frauen, die sich weiterbilden, trainieren und verändern sollen. Für die männlichen Kollegen und auch die Unternehmen entsteht durch die so verstandene Frauenförderung eine komfortable Situation: Die geltenden Bewertungsmassstäbe für Leistung müssen nicht hinterfragt werden.

So kommen wir nicht weiter! Was ist stattdessen zu tun? 

Zunächst einmal gilt es für Unternehmen wie Führungskräfte (und Beschäftigte natürlich auch) anzuerkennen, dass das geltende Leistungsprinzip keinesfalls objektiv ist. Es werden bestehende gesellschaftliche und strukturelle Ungleichheiten reproduziert und verhindern entsprechend Gleichstellung.
Es bedarf stattdessen Leistungskriterien, die die verschiedenen Lebensrealitäten, und bestehenden impliziten Biases anerkennen und berücksichtigen. Die Kriterien gehören also auf den Prüfstand, müssen verändert und ihre Interpretationsmöglichkeiten sowohl erweitert als auch transparent gemacht werden – um vergleichbare Beurteilungen von beispielsweise Belastbarkeit zu gewährleisten.
Gleichzeitig ist es auch sinnvoll bestimmte Kriterien zu streichen: Präsenz am Arbeitsplatz oder Dauererreichbarkeit sind keine geeigneten Parameter einer geschlechtergerechten Leistungsbeurteilung. Stattdessen bedarf es Messmöglichkeiten von quantitativem wie qualitativem Outcome der geleisteten Arbeit. 

Diese Ansätze bedeuten eine gleichgestellungsorientierte Veränderung der Unternehmens- und Führungskultur, an der Frauen und Männer in ihrer Vielfalt in gleichem Masse beteiligt sein sollten. 


Wir freuen uns, dass die Handelszeitung als unser Projektpartner diesen Artikel in in der Printausgabe am 29. April und am 2. Mai 2021 in der Online-Ausgabe veröffentlicht hat.

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