Organisationsebenen befördern Chancengleichheit

Sortierung der Komplexität durch das Modell von Organisationsebenen befördert Chancengleichheit

Gabriele Schambach
31. Oktober 2019

 

Chancengleichheit in der Unternehmenspraxis zu realisieren ist ein hoch komplexes Anliegen. Schnell verliert man die Übersicht, wo am besten anzusetzen ist. Oder man verstrickt sich in Einzelmassnahmen ohne die Gesamtstrategie im Auge zu behalten. Damit Sie vor lauter Bäumen auch den Wald noch sehen können, hilft Ihnen das Modell der Organisationsebenen.

Ausgangspunkt
Es gibt kein Unternehmen, das auf einer Metaebene „neutral“ sind. Diese Aussage bezieht sich nicht auf die Frage, ob es „weibliche“ Organisationen gibt. Es geht vielmehr darum, Aspekte von Geschlechterungleichheiten in Unternehmen wahrzunehmen und sichtbar zu machen – und zu verändern. 

Denn in Organisationen und Unternehmen bringen sich einzelne Frauen und Männer in ihrer Vielfalt individuell ein, sie setzen ihre Kompetenzen und Qualitäten in ihrer fachlichen Arbeit um. Gemeinsam mit Führungskräften, Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen gestalten sie das Selbstverständnis, welches sie in Aufgabengebieten, Bereichen, Aktivitäten etc. realisieren. Und all dies ist nicht genderneutral!

Organisationen und Unternehmen sind also nicht irgendwelche objektiven Gebilde, sondern sie werden von Menschen geformt. Gender ist dabei eine zentrale Kategorie, die sich sowohl in Personen und Kulturen als auch in Strukturen und Inhalten manifestieren und (re)produzieren. 


Grundidee
Das Modell der Organisationsebenen habe ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen der Beratung von Unternehmen und Organisationen erarbeitet. Basis des Modells ist die Erkenntnis, dass Organisationen und Unternehmen durch verschiedene Ebenen gekennzeichnet sind:

  • Die Ebene der Person = das Individuum
  • Die Ebene der Kultur = das Miteinander
  • Die Ebene der Struktur = die Rahmenbedingungen
  • Die Ebene der Inhalte = die Angebote und Produkte

Diese sind nicht als starres Gerüst zu verstehen, sondern sie greifen ineinander und Grenzen können verschwimmen. Jede Ebene hat ihre eigene innere Logik. Gleichzeitig bedingen sich die Ebenen gegenseitig. Um Chancengleichheit herzustellen, braucht es selbstverständlich Veränderungen auf allen Ebenen – also eine Gesamtstrategie. Dabei ist es hilfreich, die einzelnen Ebene zunächst getrennt voneinander zu betrachten und geeignete Massnahmen zu entwickeln. Anschliessend werden sie in ihrer Wechselwirkung betrachtet und in ihren Abhängigkeiten wieder zusammen gefügt. Dies ermöglicht ein sortiertes, übersichtliche und strukturiertes Vorgehen – weshalb ich die Darstellung als Puzzle gewählt habe.

Das Zusammenspiel der Ebenen wird am Beispiel des Ziels, den Frauenanteil in Führungspositionen zu erhöhen, deutlich: Auf der individuellen Ebene der Person hat vermutlich jeder Mensch eine Meinung, Erwartungen oder Befürchtungen. Auf der Ebene der Kultur wird das „Miteinander“ der Einzelnen deutlich: Wird das Ziel eher abgelehnt? Sind Abwertungen von „Alibifrauen“ oder „Quotenfrauen“ akzeptierte Haltungen? Wird das Ziel befürwortet? Findet beispielsweise eine offene Diskussion über Führungsstile statt? Die Ebene der Struktur spiegelt im Grunde als Ergebnis die Rahmenbedingungen der beiden anderen Ebenen wider: Hier manifestieren sich die Bedingungen, die eine Erhöhung des Frauenanteils in Führungspositionen befördern. 

Das Modell funktioniert auch umgekehrt: Wenn die Rahmbedingungen zum Beispiel vereinbarkeitsfreundlich gestaltet sind, indem Meetings grundsätzlich bis um 16.00 Uhr beendet sind, dann bedeutet das auf der kulturellen Ebene die Akzeptanz, dass Menschen mit Familienverantwortung das Unternehmen verlassen – ohne dass beispielsweise abwertende Witze oder Bemerkungen gemacht werden, wie „Du arbeitest heute wohl mal wieder nur einen halben Tag?!“ Auf der Ebene der Person ziehen diese Rahmenbedingungen und Kulturen dann wiederum Menschen an, die Karriere machen wollen, ohne deswegen auf ihre Familie zu „verzichten“.


Auch in einem weniger chancengerechten Sinne ergeben sich diese Wechselwirkungen: Rahmenbedingungen von ausschliesslicher Vollzeit, ohne Gleitzeit, mit Präsenzkultur kennzeichnen eine Kultur, dass nur, wer „den ganzen Mann“ und ohne Rücksicht auf Verluste in den Dienst des Unternehmens stellt, als Leistungs- und Potentialträger gilt. Die Personen, die sich für solche Unternehmen interessieren oder sich darin eine Karriere versprechen, teilen diese Grundsätze und arrangieren ihr (Familien-)Leben entsprechend.


Diese Wechselwirkungen machen auch deutlich, warum es in manchen Unternehmen eine Reihe von Rahmenbedingungen beispielsweise zur Förderung von Frauen gibt, zugleich aber der Anteil von Frauen in Führungspositionen nicht steigt: Die Kultur des Unternehmens hinkt hinter den Rahmenbedingungen hinterher. Und auf der Ebene der Person gibt es (zuweilen) Führungskräfte, die zwar formell den Zielen zustimmen, aber die den Sinn nicht erkennen (wollen), deren Mindset Chancengleichheit erschwert oder die abwarten und nicht proaktiv handeln oder hoffe, dass das Thema wieder verschwindet.


Jede Ebene ist darum mit einem jeweils eigenen Ziel zur Förderung der Chancengleichheit verbunden:

  • Die Ebene der Person –> Sensibilisierung, Wissen? und Qualifizierung
  • Die Ebene der Kultur –> Abbau von Dominanzkulturen, Aufbau von ? (Gudrun würde sagen Partnerschaftskulturen ;–))
  • Die Ebene der Struktur –> Veränderung der Rahmenbedingungen
  • Die Ebene der Inhalte –> Berücksichtigung von Gender Aspekten in den Angeboten und Produkten 


Die Ebene der Person
Diese Ebene nimmt die Personen als Handelnde und (Re-)Produzent*innen von Chancen(un)gleichheit in den Fokus. Jede Person in einem Unternehmen hat ihre eigene Biographie, Lebenswirklichkeit, Herkunft, Ausbildungs- und Berufsprofession, Vorstellung von einem glücklichen Leben, guter Arbeit, erfolgreicher Karriere sowie Chancengleichheit.
Was jede einzelne Person privat denkt und tut, geht ein Unternehmen nichts an. Wenn sich die Organisation aber Chancengleichheit zum Ziel gesetzt hat, dann braucht es Führungskräfte und Mitarbeitende, die dieses Ziel in ihrem Arbeitskontext befördern. Unter dem Stichwort Sensibilisierung und Qualifizierung geht es um

  • die Informationsvermittlung über die Auswirkungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf individuelle Lebensrealitäten
  • das Wissen über (strukturelle) Diskriminierungen und Benachteiligungen sowie Privilegierungen 
  • das Thematisieren von persönlichem (Des-)Interesse
  • die (Selbst-)Reflexion von Stereotypen, Vorurteilen, Unconscious Bias, Rollenvorstellungen
  • das Aufgreifen von Zweifeln, Ängsten und Befürchtungen
  • den Erwerb von Gender Diversity Kompetenzen als Fach- und Sozialkompetenz
  • Das Kennen- und Erlernen von geeigneten Aktivitäten und Tools zur Beförderung von Chancengleichheit

Erfahrungsgemäss hat jede Person eine eigene private Meinung zum Thema Gender Diversity. Es bietet sich an, diese auch so bestehen zu lassen und die Menschen weder missionieren noch „umerziehen“ zu wollen – das führt eher zu Widerstand und Abwehr. Ein erfolgversprechender Zugang ist, die Menschen in ihrer Funktion als Führungskraft oder Beschäftigte anzusprechen. Besonders Führungskräfte stehen in der Pflicht unter anderem für Chancengleichheit zu sorgen. Indem der Fokus auf den Unternehmenskontext und die Arbeitsaufgabe gesetzt werden, treten persönliche Aspekte eher in den Hintergrund. Vor allem Männer, die sich mit Genderthemen beschäftigen (sollen), fällt es dadurch meiner Wahrnehmung nach leichter, sich darauf einzulassen.


Die Ebene der Kultur
Wie gesagt, bezieht sich diese Ebene auf das Miteinander – und dessen Manifestationen. Die Organisationskultur entsteht als dynamischer (Lern-)Prozess im Umgang mit Herausforderungen aus der Umwelt und interner Koordination. Dabei kristallisieren sich bevorzugte Orientierungsmuster und Lösungswege heraus. Es entstehen Bewertungen darüber was als „gut“ oder „schlecht“ angesehen wird, welche das Handeln bestimmen und zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen. Die Kultur besteht aus unausgesprochen und ungeschriebenen Gesetzen, wird als „Arbeitsatmosphäre“ oder soziales Klima beschrieben und ist eher intuitiv und emotional wahrnehmbar. Sie ist deshalb auch wenig fassbar, weil es so schwerfällt, sie überhaupt konkret in Worte zu fassen. Dazu zählen unter anderem

  • Normen und Werte
  • Führungsverständnis
  • Führungsstil
  • Leistungs- und Beförderungskriterien
  • Umgang mit Ideen, Innovationen, Fehlern und Konflikten
  • Kommunikation
  • Sprache

Die Unternehmenskultur gilt als die zentrale Ebene für den Erfolg oder Misserfolg von Veränderungsprozessen der Organisationsentwicklung – bedauerlicherweise ist sie gleichzeitig die am schwierigsten veränderbare Ebene! 
Ein einzelner Führungskräfte-Workshop zum Thema Führungsverständnis, ein Reflexionstraining über Normen und Werte oder ein Austausch über das (zu entwickelnde) Leitbild reichen nicht aus. Zur Veränderung der Unternehmenskultur bedarf es Kontinuität und Wiederholungen. In verschiedenen abwechslungsreichen und kreativen Formaten gilt es das Anliegen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu inszenieren. Hilfreich ist, wenn an Instrumenten auf der strukturellen Ebene angeknüpft werden kann, oder wenn geeignete Formate von Workshop-Teilnehmenden selbst entwickelt werden.
Zur Veranschaulichung ein Beispiel zum Home-Office: Auf der strukturellen Ebene gibt es eine konkrete Betriebsvereinbarung. Auf der Ebene der Person spielen Kontrolle oder Vertrauen eine zentrale Rolle sowie die Frage der persönlichen Einschätzung von Sinn oder Unsinn temporären Arbeitens ausserhalb des Büros. Auf der kulturellen Ebene geht es um Präsenzkultur und das Selbstverständnis als Führungskraft bzw. um Führungsstil. Ich kann eine Führungskraft nicht zwingen „endlich einzusehen“, dass Home-Office viele Vorteile für alle hat. Und ich kann ihr auch nicht die Betriebsvereinbarung auf die Stirn nageln, damit sie diese anwendet. Wer nicht will, ist findig darin, Auswege und Schlupflöcher zu finden. Zielführend sind stattdessen beispielsweise:

  • Vorstand oder Geschäftsführung gehen mit gutem Beispiel voran
  • Vorbilder und Pilotbereiche werden porträtiert und (intern) kommuniziert 
  • Vorteile von Home-Office für Unternehmen, Führungskräfte und Beschäftigte werden (intern) kommuniziert
  • Jährliche Darstellung (zum Beispiel im Geschäftsbericht) über den Anteil verbrachter Arbeitszeit im Home-Office im Unternehmen, pro Bereich und pro Abteilung
  • Online-Quiz mit auch humorigen Fragen und Antwortmöglichkeiten - mit anschliessender Präsentation der (anonymisiert aufbereiteten) Ergebnisse 
  • Infodisplays, Plakate oder Aufkleber mit „Heute schon gehomeofficed?!“
  • Bei obligatorischen wiederkehrenden Führungskräfte-Treffen das Thema jedesmal auf der Tagesordnung setzen - mit jeweils anderer Ausrichtung zum Beispiel die vorher genannten Möglichkeiten aufnehmend

Die Kultur zu verändern führt über Gewöhnung und Alltäglichwerdung. Dies geschieht gleichzeitig über die Erkenntnis: Das Thema wird nicht wieder weggehen. Bei Führungskräften ist auch der Peer-Effekt zu nutzen, der wahlweise über Vorbilder als auch über Wettbewerb gut funktioniert.


Die Ebene der Struktur
Wie erwähnt, ist diese Ebene Voraussetzung und Ergebnis gleichermassen. Hier schlägt sich in den Rahmenbedingungen nieder, was auf den anderen beiden Ebenen selbstverständlich ist. Gleichzeitig bedingen die Strukturen die Unternehmenskulturen und machen das Unternehmen für bestimmte Menschen attraktiv und für andere nicht. Zu den Instrumenten und Massnahmen für mehr Chancengleichheit zählen beispielsweise:

  • Flexible Arbeitszeiten und -orte
  • Zielvereinbarungen mit quantitativen und qualitativen Kennziffern
  • Genderorientierte Arbeitsplatzbeschreibungen und Stellenausschreibungen
  • Strukturierte und transparente Einstellungs- und Beförderungspraxis
  • Lebensphasenorientierte Personalentwicklung

Hierbei wird auch die Abhängigkeit zu den beiden anderen Ebenen deutlich: Es muss auf der kulturellen Ebene beispielsweise der Wert gelten, dass in Sabbaticals oder Erziehungszeiten ausserberufliche Kompetenzen erworben werden, die für die berufliche Tätigkeit nützlich sind (wie Organisationstalent, Geduld, Neugierde, Umgang mit Ungewohntem, Einlassen auf Neues oder ähnliches). Im Ergebnis werden Sabbaticals und Erziehungszeiten dann strukturell befördert, als Leistungsmerkmal in die Potentialanalyse aufgenommen, bei Bewerbungsgesprächen abgefragt und in die Lebensphasenorientierte Personalentwicklung integriert. Gleichzeitig müssen auch die Beschäftigten und Führungskräfte von den positiven Effekten überzeugt sein, damit sie zum einen die Angebote von Sabbaticals annehmen bzw. genehmigen. Zum anderen ist dies auch deshalb notwendig, damit beispielsweise bei Bewerbungsinterviews auch danach gefragt wird - und der Aspekt nicht einfach übergangen wird.


Die Ebene der Inhalte 
Diese Ebene habe ich bisher vernachlässigt, weil sie häufig in Unternehmen keine so grosse Rolle spielt. Relevant ist diese Ebene hingegen beispielsweise im Bildungs- oder im sozialen Bereich. Dabei kann es um Angebote für die verschiedenen Zielgruppen (im Bildungsbereich) oder die Berücksichtigung Gender im sozialen Bereich gehen (wie beispielsweise genderorientierte Kitaarbeit oder interkulturelle Pflege).

Die Frage nach Zielgruppen sowie Gender Aspekten in der fachlichen Arbeit beschäftigt natürlich auch Unternehmen. Weil allerdings in den meisten Unternehmen die wenigsten Leute Einfluss auf die Produkte haben, ist es ausreichend beispielsweise die Zielgruppen im Rahmen von (externer) Kommunikation.
Schlussfolgerung

Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass das Arbeiten mit dem Modell von „Organisation“ die Umsetzung von Chancengleichheit unterstützt. Es hilft Zusammenhänge zu verstehen und strukturiert Aktivitäten und Massnahmen zu entwickeln und anzuwenden.

Allerdings gibt es kein Patentrezept: Jedes Unternehmen ist anders. Die Mitarbeitenden sind unterschiedlich, die Kulturen sind spezifisch, auch die Branchen sind verschiedenartig ebenso wie die drängendsten Nöte. Diese müssen berücksichtigt und Instrumente und Konzepte entsprechend angepasst werden. Ein Unternehmen der Energieversorgung hat mit seinen Aufgaben und Mitarbeitenden mit Sicherheit eine andere Organisationskultur, als ein Organisation der Sozialwirtschaft. Doch unabhängig von den Unterschieden gibt es gemeinsame Eckpunkte zur Umsetzung von Chancengleichheit.

Zudem ist jede Organisationsentwicklung ein dynamischer Prozess, bei dem sich zuweilen erst im Verlauf herausstellt, welche Ebenen besonders relevant sind oder welche Aktivitäten den grösstmöglichen Erfolg versprechen - oder auch wo die „Biggest Failures“ lauern. 

Aus eigener Erfahrung sind mir Lust und Frust des Prozesses bekannt: Die Lust an der Kreativität, die in der Prozessgestaltung steckt, und den Frust, wenn sich die Organisation langsamer verändert, als zuvor gedacht und gewünscht. Die Erzeugung von Druck, zum Beispiel durch Sanktionen, ruft meines Erachtens Gegendruck hervor, der in den meisten Fällen zu Verhaltensstarre und Ausweichmanövern führt. Auch fordert jeder Veränderungsprozess Widerstände heraus, und weil darin gleichzeitig die meiste Energie steckt, gilt es diese entsprechend den Zielen zu lenken. Unabdingbar sind die Unterstützung der Geschäftsführung und das Selbstverständnis als lernende Organisation, in der Vielfalt hilft, gute Lösungen zu finden.

Der Beitrag erschien zuerst bei Genderworks.

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